Martin schrieb: Die Evangelikalen repräsentieren einen primitiven Fundamentalismus, der nicht Richtschnur der Auseinandersetzung sein kann. Es führt nirgendwohin, wenn wir nachweisen können, dass es in jeder Religion Bekloppte gibt, ...
Die Frage nach den Ursachen ist unbestreitbar wichtig, aber nicht minder die Betrachtung der Wirkungen und Dimensionen, um sich überhaupt den Ursachen zuzuwenden. Wären die Evangelikalen nur eine Sekte mit 1000 Mann, so gäbe - es den Fundamentalismus betreffend - weniger zu vergleichen. Aber die Evangelikalen sind 1. eine Bewegung, die viele Millionen Menschen erfasst und mit 2. wahnhaftem Eifer und 3. modernsten Kommunikationsstrategien die Spaltung der US-Gesellschaft und Welt betreibt, was maßgeblich dazu beitrug, wer US-Präsident wurde und welche Entscheidungen dieser traf - als sei Jesus ein Bomber-Pilot.
martin schrieb: weil es den Blick für die spezifischen Ursachen und Zusammenhänge verstellt.
Die Ursachen für die Konjunktur des christlichen Fundamentalismus halte ich durchaus den Ursachen für die Konjunktur des islamischen Fundamentalismus in wichtigen Momenten vergleichbar: Als Suche in einer aufgewühlten Welt nach Halt in Subjektivismen, in Strenge und Dualismus.
Derik schrieb: man muss also islamkritik nicht als kritik am koran oder an der religion anbringen, sondern als kritik an der jeweiligen gesellschaft.
@Derik, dazu rate auch ich. Gleichwohl soll mir kein Religiöser so tun, als seien ihm seine religiösen Quellen in allen Stellen unbedenklich oder nicht zumindest aus Perspektive anderer Weltanschauungen missverständlich, anstößig und kritisierbar. Die Unkritischen und Niemals-Zweifler würde ich für Heuchler halten, wenn sie sich nicht aufrichtig, also Probleme bekennend, und ausreichend mühen, die bedenklichen Sprüche ins Positive zu interpretieren.
Derik schrieb: denn, würden wir es als kritik der religion behandeln, müssten wir zuerst unsere eigene religion kritisch behandeln.
Daran ist richtig, dass die Kritik des Selbstkritischen glaubwürdiger ist, aber dürfte sich der Kritisierte mit der fehlenden Selbstkritik seiner Kritiker rausreden, so wäre auch das zu kritisieren. Und das erleben wir fortlaufend, dass wenn religiöse oder nationale Eiferer Kritik an anderen Religionen oder Nationen üben, dort ebenfalls Eiferer wecken, es umgekehrt zu tun - so kommen beide nicht zur Besserung und über die Selbstgerechtigkeit hinaus.
Martin schrieb: Die Unterscheidung zwischen Religion im engeren Sinne und dem soziokulturellen Bereich im weiteren Sinne lässt sich im Islam nicht so trennscharf ziehen, wie wir das für die (post-)christlichen Gesellschaften gewohnt sind, weil die differenzierende Wirkung der Aufklärung hier eben fehlt.
Gewohnheiten können trügerisch sein, insbesondere die Gewohnheit, dass Aufklärung keine Variable sei, sondern Festung der Vernunft, obwohl doch gerade auch der gute Wille zur Differenzierung abirrende Wege beschreiten kann, auf denen sich das Gemeinsame verliert. Ohnehin scheint mir riskant, die Vernunft für sich, für mich in Anspruch zu nehmen und nicht bescheidener im Bewusstsein erforderlicher Übung darin - und der kritischen Reflexion, ob es klappte. Und ich habe zu viel Erfahrungen mit der Endlichkeit von Ewigkeitssprüchen, ob nun unser Wissen um das "Tausendjährige Reich" oder die "Unumkehrbarkeit des Sozialismus" samt der "Unzerbrechlichkeit" zugehöriger "Bruderarmeen". Kaum etwas davon blieb, zum Glück und vermeintlichen Unglück anderer. Der Nationalsozialismus, der zurecht als "Zivilisationsbruch" bezeichnet wird und dennoch nach mehr als 200 Jahren Aufklärung nicht unterblieb, beweist gnadenlos die Garantielosigkeit des Aufklärungserfolgs. Es ist keine relativistische These, wenn ich sage, dass uns in "unaufgeklärten" Schamanen mehr Vernunft begegnen kann als in den Geistigen Köpfen der Aufklärung selbst - vielleicht immer dann, wenn weniger Köpfe rollten. Und es ist schon deshalb keine relativistische These, weil diese These einen Maßstab benennt. Erst über solch Maßstab ließe sich streiten. Die Frage stellt sich weniger, wer und seit wann sich für aufgeklärt hält und andere nicht, sondern was die Aufklärung begünstigt und was sie behindert. Die Bibel und der Koran sind je nach Willen und Kunstfertigkeit seiner Interpreten mit der Aufklärung vereinbar oder auch nicht. Die führenden Interpreten erwiesen sich jedoch durch alle Geschichte den jeweiligen Hierarchien oft fester verbunden als der Auslegung zu Zwecken der Aufklärung. So war auch im christlichen Kulturraum die Aufklärung nicht zuvörderst das Werk des Christentums und seiner Kirchen, sondern des aufstrebenden Bürgertums und Proletariats, während die Aufklärer innerhalb des Christentums seit Jahrhunderten scheiterten, bis hin auf Scheiterhaufen als "Ketzer". Und heute? Wenn wir gegen den Relativismus streiten, wie ich es z.B. mit www.ideale.de oder der Dialogie versuche, wer sind dann unsere Verbündeten? Wer spricht mit welcher Autorität der Aufklärung, der Vernunft und gegen den Relativismus das Wort? Wer zwischen all den Geballere noch Aufmerksamkeit hat für solche Themen, der hörte den Papst gegen den Relativismus und über die Vernunft reden. Von einigen bekam er Beifall unterschiedlicher Art, von anderen Kritik, ebenfalls ganz unterschiedlicher Art. Denn wir sollten das behutsam differenzieren möchten. Und wer gegen den Relativismus streiten will, sollte die Werte benennen, um die es ihm geht. Dazu sagt der Papst (wie alle Konkurrenz, die sich nicht gänzlich einem Satanismus verschrieben hätte), dass es mehr Gerechtigkeit braucht und Frieden, dazu die vielen Appelle, den Armen zu geben, was bei den Adressaten nur selten zu Übertreibungen führt, wie es freilich nicht nur apostolischen Forderungen beschieden ist. Doch nicht minder im Vordergrund der päpstlichen Reden steht die Mystifizierung des christlichen Glaubens, wenn Jesu Wirken und Fordern zum "Wunder" und "Rätsel der Mutter mit dem Kinde" verklärt und der Unmittelbarkeit des Menschmöglichen entrückt wird. Und nicht minder soll Streit zwischen dem Papst und meinesgleichen Wenigkeit sein, wenn die katholische Kirche wie auch viele muslimische Prediger noch immer gegen Sexualaufklärung wettert, wo immer es ohne Einflussverlust zu funktionieren verspricht, als sei mit der traditionellen Moral zu hindern, was nur durch explizite Verhütungstechnik möglich ist: Die Abkehr vom Vermehrungswahn. Sodann ist es auch keine Vernunft oder Aufklärung, wenn der Atheismus des Relativismus = Wertelosigkeit verdächtig gemacht wird, sondern verleugnet die Ideengeschichte in unsäglicher Weise, auch wenn kaum etwas ausschließlich positiv war, aber kaum etwas eben auch nicht originär im Judentum, Christentum und Islam. Sodann ist auch keine Aufklärung, wenn Judentum, Christentum und Islam, vertreten durch ihre wichtigsten Gelehrten, die Homosexualität verteufeln, als "naturwidrig" hinstellen, obwohl die Biologie ganz allgemein und auch die Humanbiologie Nachweis führt, dass die nicht unterdrückte Homosexualität mangels Leid und Schaden gar nicht erst Krankheit und überhaupt auch nicht "Abnormität", denn so wenig uns blaue Augen abnorm sind, kann abnorm sein, was solche Vorkommnisgröße hat wie die Homosexualität in Natur und Mensch, es sei denn, dass religiöse und politische Normen es ohne Not zu "Abnormität" normieren. Und dass die Sexualität einzig zum Zwecke der Fortpflanzung bestimmt sei, kann ebenfalls nur empfinden und predigen, wer der Natur und dem Menschen weniger Freude gönnt, sondern aus Überpopulation Vorteil will, im demographischen Wettbewerb gegen die anders ideologisch beeinflusste Menschenmassen, worin sich der Offenbarungseid bekundet, dass in diesem Wettbewerb kaum jemand auf die Argumente der Vernunft vertraut und auch nicht auf die Mission, und als seien die Ressourcen so unendlich, wie es die menschliche Unvernunft sein kann. Als sei also die Vernunft durch schlichtes Gottvertrauen zu ersetzen. Aber genau das ist die Hauptbotschaft aller religiösen Verklärung und der Aufklärung entgegen. Nein, der Vergleich aller Religionen und Ideologien macht durchaus Sinn - und besonders in Zeiten, in denen so viele "Differenzierung" fordern und "Spaltung" meinen. Nichts und niemand kann/darf sich solchen Vergleichen entziehen, sondern jeder muss nachweisen, ob sein Denken, seine Aufklärung zur Brücke taugt oder zum Streichholz darunter. Verschließe ich meine Augen vor der "Rückständigkeit bei Muslimen"? Damit würde nicht deren Rückschrittlichkeit in der Waffentechnik gemeint sein, denn das wünschen sich viele, die hierin ganz vorne sind. Nein, "rückständige" und rückschrittliche Muslime gibt es reichlich, aber er wird sich umso mehr verstärken, je mehr sich der Diskurs darauf reduziert, denn das subjektiviert und dividiert die Gemeinschaft, macht blind gegen das Pingpong-Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen, also auch blind für die eigenen, tatsächlichen Schuldigkeiten UND Möglichkeiten, über kulturelle Abgrenzungen hinaus gemeinsam Vernunft zu entwickeln. Diesbezüglich sind sich Martin und ich sicher einig. Und auch der Papst würde es unterschreiben, auch die muslimischen Verbände in Deutschland. Da habe ich keinen Zweifel. Die Frage ist einfach: Worauf baut man Gemeinsames auf? Auf Schluchten? Nein, man braucht dazu das Wissen um die gemeinsamen Werte = Gemeinsamkeit im Grund. - Darin wäre ich bereitwillens "Fundamentalist":-)